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Selbstverteidigung: «Kinder lernen, wie sie kritische Situationen entschärfen können»

Wie ein Selbstverteidigungskurs das Selbstwertgefühl steigert und Kinder sicherer und ausgeglichener macht, erklärt die Win-Tsun-Trainerin Regula Schembri.

Ein Mädchen übt sich im chinesischen Kampfsport Wingtsun.
Ein Selbstverteidigungskurs hilft Kindern selbstsicher aufzutreten und Gefahrensituationen zu erkennen. © SolStock / E+

WingTsun ist eine Form des chinesischen Kung Fu, dessen Wurzeln über 300 Jahre alt sind. In der Schweiz und in Lichtenstein gibt es über 40 Schulen. Angeboten werden Kurse für Kinder ab vier Jahren ebenso wie Eltern-Kind-Kurse. WingTsun lehrt Selbstverteidigungstechniken und fördert die Körpermotorik. Wettkämpfe gibt es nicht. Regula Schembri erzählt uns im Gespräch, weshalb der Kampfsport gerade auch für Kinder geeignet ist.

Zur Person: Regula Schembri

Regula Schembri ist die stellvertretende Geschäftsleiterin EWTO-Schulen Schweiz. Sie unterrichtet Kinder in Küsnacht (ZH) bei WingTsun. Die chinesische Kampfkunst praktiziert Regula Schembri schon seit über 40 Jahren.

Sie unterrichten WingTsun für Kinder ab vier Jahren. Kann man Kindern in diesem Alter schon etwas über Selbstverteidigung beibringen?

Ja, das geht sogar erstaunlich gut. Das Kind lernt, wo seine Grenzen sind und wie es schon durch die Körperhaltung signalisieren kann, dass es etwas nicht mag. Zudem trainieren wir, wie das Kind sich verbal abgrenzen kann. Dafür machen wir kleine Rollenspiele. Natürlich lernen die Kleinen auch einfache Verteidigungstechniken, so dass sie später besser für die älteren Gruppen vorbereitet sind. WingTsun-Bewegungen schulen zudem die Körpermotorik.

Auf ihrer Webseite schreiben die WingTsun Schulen der Schweiz, dass Sie viel Wert auf das «Erkennen von möglichen gefährlichen Situationen, das Entschärfen von brenzligen Momenten und die Prävention» legen. Wie machen Sie Kindern klar, was eine Gefahrensituation ist und was nicht?

Kindern erkläre ich das immer bildlich: Wenn es im Bauch viele Steine fühlt, also ein schlechtes Bauchgefühl hat, dann handelt es sich wohl um eine ungute und möglicherweise gefährliche Situation. Gerade bei Kindern kann man gut mit Bildern und spielerisch arbeiten. Die Kleinen lasse ich zum Beispiel oft Tiere oder Gefühle mimen. Sie sollen sich fragen, wie sie sich verhalten, wenn sie Angst oder Freude haben. Und diese Gefühle auch beim Gegenüber zu erkennen.

Können kleine Kinder sich denn schon so gut ausdrücken?

Die Kleinen merken oft intuitiv, dass sie sich in einer Situation unwohl fühlen. Sie können aber nicht genau sagen, was sie stört. Deshalb hilft es ihnen einfache Aussagen zu üben, wie «Stopp» oder «Lass mich in Ruhe». Das hilft ihnen die Situation zu meistern. Die älteren Kinder hingegen sollen genauer sagen, was sie nicht wollen. Sich verbal und lautstark zu wehren kann oft schon eine gefährliche Situation abwenden.

Wie sieht eine typische Unterrichtsstunde im WingTsun für Kinder aus?

Zuerst mache ich mit den Kindern einen Bewegungsablauf des Wing Tsun, bei dem Konzentration und Feinmotorik üben. Danach kommen Selbstbehauptungsübungen und es werden kleine Situationen durchgespielt. Was mache ich beispielsweise, wenn mich auf dem Heimweg jemand packen will oder mir den Weg versperrt und wie verhindere ich das? Es geht immer darum, dass die Kinder lernen, wie sie kritische Situationen entschärfen können. Zudem gibt es in jeder Stunde Spiele, die die Bewegung fördern und Schlagübungen. Den Schluss bildet ein Theorie- und Entspannungsteil.

Die Kinder dürfen in der Unterrichtsstunde also auch richtig zuschlagen?

Ja, das macht allen immer sehr viel Spass. Sie können sich an den Schlagpolstern auspowern und erfahren, wie kräftig sie wirklich sind. Viele merken, dass sie doch mehr Kraft haben, als sie geschätzt hätten.

Apropos Kraft. Spricht WingTsun eher Jungen als Mädchen an?

Es sind etwas mehr Jungen als Mädchen im Training, aber es hält sich fast die Waage.

Wäre es denn nicht gerade für Mädchen wichtig, einen Selbstverteidigungskurs zu besuchen?

Ja, natürlich. Aber auch für Buben sind Selbstverteidigungstechniken sehr wichtig. Sie sind zwar meistens die Auslöser von Streit und Auseinandersetzungen, aber sind auch dementsprechend oft die Betroffenen von Gewalt. Bei Buben kommt es also umsomehr darauf an, dass sie lernen, wie sie Gefahrensituationen erkennen und deeskalieren können. Mädchen sind meist in einem viel geringeren Masse involviert. Sie müssen lernen, nicht unsicher zu wirken und selbstbewusst aufzutreten.

Gibt es auch Kinder für die WingTsun nicht geeignet ist?

Es gibt natürlich immer Kinder, die überängstlich sind. Sie versuche ich langsam zu integrieren, damit sie ihre Angst abbauen können. Denn gerade die Ängstlichen sind die, die den Unterricht wirklich benötigen.

Was raten Sie Kindern in gefährlichen Situationen? Nehmen wir das Beispiel, dass sie ein Fremder auf der Strasse anspricht und vielleicht sogar versucht sie zu packen.

Wir weisen Kinder an, sich auf der Strasse nicht von unbekannten Menschen ansprechen zu lassen oder sich in ein Gespräch verwickeln zu lassen. Für Kinder ist es sehr schwer, in der Kürze des Moments abzuschätzen, was die Absichten des Erwachsenen sind. Deshalb sollen sie besser einfach weitergehen. Gerade von Personen in Autos sollten Kinder viel Abstand halten, da hier die Gefahr besteht, ins Auto gezogen zu werden.

Können sich Kinder, die bei Ihnen den Selbstverteidigungskurs besuchen, denn gegen die viel grösseren und stärkeren Erwachsenen verteidigen?

Ja. Wenn die Kinder die Techniken fundiert gelernt haben, geht das. Aber am wichtigsten ist das Einhalten von einfachen Verhaltensregeln, wie zum Beispiel nicht mit Fremden mitzugehen. Die Kinder lernen die Situationen zu beobachten, Fluchtwege zu suchen und nach Helfern Ausschau zu halten.

Diese Verhaltensmuster haben wenig mit Zuschlagen zu tun.

Ja, denn Selbstverteidigung heisst vor allem, dass man gefährliche Situationen erst gar nicht entstehen lässt. Das Verhindern der Gefahrensituation ist für uns die wichtigste Technik der Verteidigung. Aber für den Ernstfall lernen die Kinder natürlich auch einfache Schlagtechniken, mit denen sie sich effizient zur Wehr setzen können. Dazu gehört zum Beispiel auch das Befreien einer festgehaltenen Hand oder aus einer Umklammerung. Das üben wir regelmässig, sodass die Technik im Schreckmoment präsent ist.

Gegen den Kampfsport wird immer auch das Vorurteil vorgebracht, dass er Kinder aggressiv macht.

Natürlich gibt es Kinder, die im Unterricht ihre Aggressionen ausleben wollen. Die kann ich abholen, indem ich sie an einer Übung konzentriert arbeiten lasse. Sie lernen, mit ihren Aggressionen umzugehen und können sich am richtigen Ort auspowern. Aggressive Kinder haben oft das gleiche Problem wie die Ängstlichen, sie gehen nur verschieden damit um: Die einen reagieren auf ihre Angst und Hilflosigkeit mit Rückzug, die anderen werden aggressiv. Durch den Selbstverteidigungskurs lernen Kinder neue Auswege kennen.

Haben Sie denn nicht Angst, dass Ihre Schüler und Schülerinnen die Schläge und Tritte auch gegen die Mitschüler und Mitschülerinnen verwenden?

Auseinandersetzungen auf dem Schulhof sind immer ein Thema. Kinder sollen sich auch hier angemessen zur Wehr setzen können. Aggressiv als Angreifer wird WingTsun nicht geübt, da es kein Sport mit Wettkämpfen ist. Die Verteidigung steht im Mittelpunkt, nicht der Angriff.

Warum ist es aus Ihrer Sicht für jedes Kind wichtig Selbstverteidigung zu lernen?

Kinder haben heute oft Probleme damit, ihre eigenen Grenzen wahrzunehmen und diese klar zu kommunizieren. Sie sollen benennen können, was sie stört. Ausserdem können sie dem Gegenüber dann klar machen, dass Konsequenzen folgen, wenn er das noch einmal macht. Können die Kinder sich verteidigen, sind sie auch im späteren Leben selbstbewusster und haben mehr Respekt sich selbst und anderen gegenüber. Denn wer seine eigenen Grenzen respektieren kann, achtet auch die der anderen.

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